Anwalt des Publikums

Filmstill aus "Caché" von Michael Haneke, Schnitt: Michael Hudecek © Filmladen Filmverleih

Michael Hudecek, mdw Professor für Schnitt an der Filmakademie Wien, liefert im Interview Einsichten in die hohe Kunst des Filmschnitts.

„Der Filmschnitt ist die Kategorie im Film, die wirklich dem Film originär ist“

Regisseur George Lucas sagt über den Filmschnitt, er sei visuelle Poesie. Sehen Sie das auch so?

Der Filmschnitt ist die Kategorie im Film, die wirklich dem Film originär ist. Da gibt es keine Vor­läufersparten wie etwa in der Regie, die es beim Theater schon gegeben hat. Was das Filmische ausmacht, ist ja die Verbindung von Bildern beziehungsweise Einstellun­gen, die dadurch eine zusätzliche Bedeutung bekommen – das kann sehr viel mit Poesie zu tun haben.

Was ist Ihr persönlicher Zugang zum Schnitt?

Ich selbst bin Autodidakt und komme aus der Praxis. Durch Erproben, Ausprobieren und Experimentieren – in Zusammenarbeit mit vielen RegisseurInnen – habe ich für mich sehr viel herausgefunden und halte die Intuition für etwas sehr Wichtiges. Man kann sie beim Schneiden sehr gut einsetzen, um etwa Timing- oder Schauspiel-Entscheidungen zu treffen. Auch Studieren­de können mithilfe des Spürens viel lernen – warum eine Schnittformation an dieser Stelle stimmig ist oder eben auch nicht. Vieles lässt sich natürlich theoretisch erklä­ren, aber letztendlich muss man es ins Gefühl bekom­men, man muss es spüren, was es ist.
Der Schnitt hat auch viel mit Musik zu tun, mit musika­lischem Empfinden und Rhythmus. Wenn man lernt auf diese Rhythmen zu hören, zu achten – auch im Alltags­leben – dann kann man das sehr gut auf die Arbeit mit Film und Filmschnitt umlegen.

Wie weit spielen Schnitt-Regeln, etwa das Continuity Editing, eine Rolle?

Es ist natürlich sehr gut, wenn man diese Regeln kennt und sie auch bei anderen Filmen sieht und versteht, wa­rum das so ist und welche Vorteile darin liegen. Oft ist es aber so, dass die emotionale Kraft auch dann entsteht, wenn man genau solche Regeln bricht und dann Irritatio­nen entstehen oder emotionale Zustände aufgezeigt wer­den können. Die Konventionen gibt es also, doch Regeln sind auch dazu da, um gebrochen zu werden.

Welche Voraussetzungen braucht man, um ein/e gute/r CutterIn zu sein?

Ich denke, sehr wichtig ist es, Gespür für alle Materialien auf der Ton- und Bildebene zu haben. Ebenso essenziell ist Wahrnehmungsfähigkeit – sprich, dass man Situatio­nen erkennt oder Qualitäten von Situationen erkennt – ebenso wie Rhythmusgefühl, um einen Rhythmus auch für sich beurteilen zu können und auch den Rhythmus des Filmmaterials zu erkennen. Ebenso wichtig sind menschliche Qualitäten, die für eine gute Zusammenar­beit mit der Regie verantwortlich sind. Im Schneideraum gibt es immer drei Beteiligte: Die Regie, den Schnitt – und den Film. Auch der Film hat ein Mitspracherecht, denn Ziel ist es letztlich, dass der Film zum Film wird. Die Regie und der Schnitt tragen mit ihren Fähigkeiten dazu bei, dass der Film sich entwickelt.
Als Schnittmeisterin oder Schnittmeister ist man auch der Repräsentant des Publikums, die „Anwältin” oder der „Anwalt” des Publikums – man vertritt es und trägt dafür Sorge, dass es den Film mag und versteht oder viel­leicht auch nicht mag, aber ihn zumindest versteht.

Welche Genres sind aus der Sicht des Schnittes beziehungsweise für Sie besonders interessant?

Die Komödie ist zum Beispiel ein ganz besonderes Spiel­feld für den Schnitt, weil das Herausarbeiten von Poin­ten so viel mit Timing zu tun hat. Wir haben im Schnitt die Möglichkeit, die im Drehbuch vorgesehenen und von der Regie gedrehten Pointen so zu schneiden, dass sie einfach sitzen. Das bedeutet, dass das Publikum sie auf den Kader genau und im richtigen Moment serviert bekommt und dann auch noch Zeit hat, um darüber zu schmunzeln oder zu lachen, ohne die nächste Pointe zu versäumen. Einen lachenden Kinosaal soll man schon beim Schnitt mitbedenken.
Ein Genre, in dem ich selbst viel arbeite, ist der Doku­mentarfilm. Anders als im Spielfilm entwickelt sich der Dokumentarfilm inhaltlich oft erst im Schnittprozess, es schält sich sozusagen heraus, was eigentlich der Film ist – was der Film will, was die Person Film uns erzählen will. Diese Offenheit mag ich sehr – darin sind manchmal die wahren Schätze verborgen.
Das Genre, das ich besonders gern mag, ist der Musik­film, da ich selbst auch Musiker bin. Mit Musikfilm mei­ne ich alle Arten von Filmen, die stark im Bezug zur Mu­sik stehen oder vom Musiktheater kommen. In diesen Filmen geht es dann um das konkrete Zusammenspiel von Musik, Handlung, Emotion und Rhythmus. Eine besondere Montageaufgabe.

Foto: © Bernhard Pötscher

Foto: © Bernhard Pötscher

An der Filmakademie Wien ist das Schnitt-Studi­um eng verknüpft mit dem Sounddesign. Warum?

Der Ton ist eine Ebene, die im Film mindestens genauso wichtig ist wie das Bild. Vor einem Bild können wir ohne Zuhilfenahme anderer Mittel die Augen verschließen, aber bei den Ohren geht es nicht ohne Hilfsmittel – man ist dem Hören eigentlich mehr ausgeliefert als dem Sehen. Für die FilmemacherInnen heißt das, dass über den Ton noch mehr Emotionen oder Überraschungen geliefert werden können.
Das Schnitt-Studium ist deswegen eng mit dem Sound­design verbunden, weil auch der/die CutterIn den Ton mitdenken muss, da er dramaturgische wichtige Punkte liefert. Die feine weitere Entwicklung mit den perfekten Sounds, das ist dann natürlich die Aufgabe der Soundde­signerInnen. Sehr oft werden sie parallel zum Bildschnitt involviert und liefern schon in dieser Phase wesentliche Inputs und/oder Sounds, damit man schon in der Roh­schnittphase eine Anmutung bekommt, wie sich das an­spürt.

Wie sieht das Verhältnis von Frauen und Männern im Schnittberuf aus?

Gerade im Filmschnitt ist die Genderfrage eine sehr inte­ressante Frage und verändert sich auch im Laufe der Jahr­zehnte. Ursprünglich war der Filmschnitt ein Frauenbe­ruf, solange es noch darum ging, Filmstreifen zusammen zu kleben – also eine handwerkliche Feinarbeit. Später in den 1930er-Jahren mit dem Tonfilm ist der Schnitt technischer geworden, man brauchte mehr technische Apparate und mehr Männer kamen zum Filmschnitt. Im Moment hält sich das Verhältnis von Frauen und Män­nern im Schnittberuf ungefähr die Waage, ebenso ist es derzeit bei den Bewerbungen um einen Studienplatz an der Filmakademie Wien.

Eine letzte persönliche Frage: welcher Film ist der für Sie interessantesten oder besten geschnittene Film?

Mein Lieblingsfilm in dieser Hinsicht ist All that Jazz von Bob Fosse. Der sehr autobiografische und inhalt­lich mehrdimensionale Film, in dessen Mittelpunkt ein Regisseur und Choreograf steht, der am Broadway ein Musical inszeniert, ist interessant geschnitten, er erzählt die Geschichte etwa mit vielen Rückblenden ebenso wie poesievollen Vorblenden auf den Tod. In selbstreflexiver Weise beschäftigt er sich auch mit dem Filmschnitt und Alan Heim, Cutter des Filmes All that Jazz, spielt auch im Film einen Schnittmeister. Und letztendlich ist All that Jazz natürlich ein Musikfilm – mein Lieblingsgenre, dem ich mich auch als Musiker sehr verbunden fühle.

Interview: Doris Piller
Der Artikel ist in der Kunsträume Ausgabe #2-2016 Mai erschienen.