Claire Simon: Jedes Leben ist ein Film

© Raphael Dau

Eine Königin lässt von ihren Bediensteten Stöckchen sammeln, ein riesiger Berg wurde schon vor ihr aufgetürmt. Sie sollen immer mehr und mehr bringen und tun das fleißig wie geheißen. Die Königin nimmt schließlich den Haufen Stöcke in die Hand – alle Blicke sind auf sie gerichtet, man hält den Atem an – und wirft die mühsam gesammelten Stöckchen auf den Asphalt, sodass sie in alle Richtungen stieben. Ein Akt ultimativer Willkür.

Die Königin und ihre Diener_innen sind Kindergartenkinder, die Claire Simon in ihrem Dokumentarfilm Récréations von 1993 dokumentierte. Hier lernt man als Zuseher_in im Filmmuseum von Claire Simon direkt die erste Lektion: „Characters have no age“, sagt sie im Q&A. Sie meint damit, wenn man nur nahe genug an Menschen kommt, egal welchen Alters, wenn man sie ernst nimmt, kann man sie als das erkennen, was sie sind: Die handelnden Protagonist_innen ihrer eigenen Geschichten.

Die Kinder in Récréations verbringen täglich ihre Pause in einem tristen grauen Hinterhof in Paris – dennoch malen sie sich dort viele Welten aus. Im Wechsel von wenigen Sekunden wird man vom Polizisten zum Gefangenen. Es geht um Mut, Macht, Grenzen und Zuneigung. Claire Simon gelingt es, mit ihren Filmen das inhärent Menschliche hervorzukehren. Man spürt die große Liebe zu ihren Figuren, aber sie schönt sie nicht. Die Menschen, die Claire Simon durch ihre Kamera zeigt, wirken auf uns/das Publikum unmittelbar echt und authentisch.

Im Rahmen der Claire Simon gewidmeten Retrospektive Jedes Leben ist ein Roman, die von 17. Jänner bis 24. Februar im Filmmuseum stattfand, kam die Filmemacherin für eine Masterclass am 20. Jänner an die Filmakademie Wien, das Institut für Film und Fernsehen der mdw. Im Arthouse Kino, dem Uni-eigenen Kinosaal, konnten Studierende mit Simon über ihre Filme ins Gespräch kommen. Sie zeigte mehrere Filmausschnitte aus älteren und aktuellen Arbeiten – hauptsächlich Dokumentarfilme, aber auch Spielfilme. Bei den meisten ihrer Filme hat sie nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben und die Bildgestaltung verantwortet – war also Regisseurin sowie Kamerafrau. Diese komplexe Arbeit in verschiedenen Gewerken gleichzeitig beschreibt sie als „ihren Prozess vereinfachend“, da sie sich so Übersetzungsaufgaben in der Kommunikation spare.

© Raphael Dau

Allgemein erzählte Simon in der Masterclass davon, dass sie gerne allein oder mit sehr kleinem Team dokumentarisch drehe und wie sie dabei vorgeht. Ihre Arbeiten sind nicht losgelöst von ihr als Person, sondern haben oft einen autobiografischen Bezug – spielen an Orten und beobachten Situationen genauer, mit denen sie selbst in ihrem Leben in Kontakt kommt. So wurde Récréations etwa in dem Kindergarten gedreht, den auch ihre Tochter besuchte. In Notre corps [Our Body] (2023) bezeugt Claire Simon zahlreiche Gespräche zwischen Ärzt_innen und Patient_innen in einer gynäkologischen Abteilung eines Pariser Krankenhauses. Später im Film wird sie unglücklicherweise selbst zu Protagonistin, als ihr im Laufe der Dreharbeiten Brustkrebs diagnostiziert wird. „It was practical. I always wanted to film a patient who gets their cancer diagnosis. The doctors said – of course – we cannot allow to film such a conversation. When I myself had my appointment, I could at least film it. So it had a value. I got lucky.“ Dieses Zitat demonstriert Claire Simons Art – präzise, am Ergebnis und am Prozess gleichwohl interessiert, direkt, ironisch, und dennoch nie zynisch.

Claire Simon lacht während der Masterclass, die sie selbst nur ungern als Masterclass bezeichnen möchte („I’m not a master“), viel. Sie spricht über Kollaborationspartner_innen über die Jahre meist positiv, manchmal negativ und oft erwähnt sie, um eine Person zu charakterisieren, als erstes deren Humor: „She was very funny. Very funny person. Also she was a great editor.“ Es macht Spaß, mit Simon in ihr Werk einzutauchen. Oft ist man bereits von einem 5-minütigen Filmausschnitt bewegt oder begeistert. Alle Teilnehmenden haben Redebedarf. Claire Simon beantwortet alle Fragen, widerspricht den Studierenden auch manchmal, wenn sie sich missverstanden fühlt, und wird oft ausgehend von einer einfachen Frage philosophisch. Das Filmemachen, so merkt man, wenn man ihr zuhört, ist ein Weg, Geschichten zu sammeln und zu formen, in einer Welt, die voll von ihnen ist. Jeder Mensch kann eine Kamera und ein Aufnahmegerät zur Hand nehmen und durch seine eigenen Augen die Welt dokumentieren, Menschen zu Wort kommen lassen, die man sonst so nicht hört. Claire Simons Arbeit und ihre Person inspirieren die teilnehmenden Studierenden zum eigenen Filmemachen.

Vielen Dank an dieser Stelle an den Dozenten für Dokumentarfilmregie Constantin Wulff für die Organisation der Retrospektive im Filmmuseum und an die Regieprofessorin Barbara Albert für die Unterstützung des Vorhabens und der Masterclass. Es war für alle Teilnehmenden sehr bereichernd und es bleibt zu hoffen, dass die Retrospektive weiter dazu beiträgt, Claire Simons großartige, sensible Filme einem breiteren Publikum in Österreich zugänglich zu machen.

Text: Lotta Schweikert – Regie-Studentin
Der Text ist im mdw Magazin Mai/Juni 2025 erschienen.